Goldwiege | Visuelle Projekte

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04. Oktober 2021    Singen und schauen

Neben deutschlandweit gesungenen Liedern gab es 2021 am 3. Oktober eine weimarspezifische Bilderschau am dem Marktplatz. Fotos aus 1989 und 1990, vorrangig von Claus Bach und Philipp Wiegandt, zeigten das recht spezielle Weimarer Leben der Wendezeit. Das erste Bild der Schau zeigte das Loriot-Porträt (Philipp Wiegandt) vom 9. März 1989. Dazu hier die Rede Loriots zu seiner damaligen nahezu einzigartigen DDR-Ausstellungseröffnung in der Kunsthalle am Theaterplatz … da hatte niemand eine Ahnung, auf welch wundersame Weise sich das Jahr 1989 noch entwickeln würde:

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Sehr verehrter Herr Staatssekretär
Sehr verehrter Herr Oberbürgermeister
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Oder kürzer: liebe Freunde

man hat im Leben nicht so oft das Gefühl am richtigen Ort zu sein. Ich habe es jetzt. Glück kommt meist nicht von alleine. So auch nicht in diesem Fall. Darum möchte ich mich von Herzen bei denen bedanken, die mir zu diesem Glück verholfen haben. Da sind vor allem der Herr Staatsekretär Dr. Keller vom Ministerium für Kultur der DDR, Herr Dr. Guratzsch und das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover, Herr Direktor Krauss und die Kunstsammlungen zu Weimar mit allen Helfern und Helferinnen. Und Sie, meine Damen und Herren, die Sie gekommen sind. Ich nutze die Gelegenheit, Herrn Ministerialdirigent Staab, den ständigen Vertreter meines ständigen Vertreters, herzlich zu begrüßen.

Als meine Frau und ich vorgestern am frühen Nachmittag die Stadt erreichten, führte uns der Weg auf den Theaterplatz, wo wir zunächst eine Weile in gebührender Andacht vor dem Marx-Engels-Denkmal verharrten, bis uns, durch das Fehlen der charakteristischen Barttracht beider Herren, die ersten Zweifel kamen … Dann sahen wir auch schon, daß es sich hier nicht um führende Politiker, sondern vielmehr um die beiden bedeutendsten DDR-Schriftsteller handelte: Goethe und Schiller nämlich.

Wir waren noch etwas in Gedanken, und mir wurde grade schmerzlich bewußt, wie wenig ich doch von Schiller noch auswendig zitieren kann, als mir ausgerechnet jener Stoßseufzer einfiel, der sich in der Jungfrau von Orleans findet. »Ach, es geschehen keine Wunder mehr!«

Hier irrt Schiller! Das Wunder ist geschehen, die Ausstellung hängt, das Publikum sitzt und die Kataloge liegen bereit! Selten hat es mich so gefreut, daß sich die Prognosen eines großen Dichters als Irrtum erweisen. Freuen wir uns also auf weitere Wunder.

Vielleicht wird mir eines Tages von den Weimarer Stadtvätern ein Gartenhäuschen an der Ilm zugewiesen; ich würde dort Gedichte schreiben, den Faust illustrieren und mich auf den Spuren Minister Goethes in die Landespolitik einarbeiten, wobei mir ein Schnellkurs in sozialistischer Aufbau-Praxis willkommen wäre.

Von Zeitgenossen des Dichterfürsten ist überliefert, dieser habe im Alter viel geredet und sei schwer zu unterbrechen gewesen. Es bietet sich mir jetzt die Gelegenheit, mich vorteilhaft von Goethe zu unterscheiden.

Die Ausstellung ist eröffnet.
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